Pfingsten 1965: Halbstarken-Treffen am Bielersee mit Aargauer Beteiligung

Von Patrick Zehnder, Autor und Co-Projektleiter

 

Es gilt als eines der Vorbeben von «1968» in der Schweiz: Das Treffen von Jugendlichen, das an Pfingsten 1965 auf der St. Petersinsel im Bielersee stattfand. Vor Ort waren zahlreiche Jugendliche aus der ganzen Deutschschweiz und dem grenznahen Ausland. Und ebenfalls anwesend war die Berner Kantonspolizei, dazu ein zweiköpfiges Reporterteam der Boulevardzeitung «Blick». 

Die jungen Leute campierten über die Festtage und feierten im Bierrausch durch. Wie das Bild aus dem Ringierbildarchiv verrät, taten auch junge Leute aus dem Aargau mit. Der Mann ganz rechts aussen trägt eine Lederjacke mit der Aufschrift Partisanen Gäng Aarau unter dem Totenkopf mit gekreuzten Knochen. Sein Name auf den Schultern – Ricky? – ist nicht mit Sicherheit zu entziffern.

Ein Artikel im «Blick» vom Dienstag, 15. Juni 1965 – in der ersten Ausgabe nach dem langen Wochenende – berichtete von unerhörten Vorkommnissen. Die Polizei sah sich veranlasst, mit den Halbstarken und ihrem Boss vom «Syndikat der Halbstarkengangs» lange Gespräche zu führen. Rund hundert Teilnehmerinnen und Teilnehmer wurden kontrolliert. Zwei von ihnen festgenommen: Zwei 19jährige Basler sollen sich an einer fünfzehneinhalbjährigen Zürcherin vergangen haben, da sie zuvor ins Zeltlager geschmuggelt hatten. Denn eine ganze Anzahl Jugendlicher konnte schon abgefangen werden, bevor sie die Halbinsel erreichten. Entweder war es an den ahnungslosen Eltern, sie abzuholen, oder die Polizei schickte sie per Schub nach Hause. Zur Erinnerung: Die Volljährigkeit erreichte man damals erst mit dem 20. Geburtstag. Das Schutzalter betrug 16 Jahre.

 

International vernetzte «Strangers»

Die Razzia vom Pfingstmontag habe der Repression gedient, wie ein Polizeisprecher festhielt. Den Begriff Halbstarke verstanden die Jugendlichen übrigens als schwere Beleidigung. Sie bezeichneten sich als «Strangers und typische Extremisten». Einer von ihnen, Jacky, gab dem «Blick» als «Boss der Blizzard-Gang» bereitwillig Auskunft: «James Dean war unser grosses Vorbild.» Und weiter: «Man kommt zur Bande entweder durch Freunde oder weil man einfach irgendwo dabei sein will. Bei uns herrscht grosse Kollegialität, und das ist ein grosser Anziehungspunkt. Ein besonderes Bedürfnis besteht eigentlich nicht. Es gibt grosse Gruppen in Frankreich, Deutschland und England. Mit diesen sind wir in ständigen Kontakt.»

Zum besseren Verständnis der Strangers lieferte der «Blick» gleich ein Glossar der damaligen Jugendsprache mit:

 

Verluusete = Strangers, Bandenmitglieder

Chatze = Mädchen

Fade = Zigarette

Hängerchatz = dummes Mädchen ohne Charme

Töff Siitewage = Bier mit Kräuterschnaps

Scherbe = Schallplatte

Edelscherbe = gute Platte.

Die Liste verrät manches über die Werthaltungen und Interessen.

 

Verschworene Bande mit wohlgeordneten Statuten

Auch druckte das Zürcher Blatt ein elf Punkte umfassendes Bandengesetz ab:

 

1. Die Befehle des Bosses werden befolgt.

2. Verraten von Geheimnissen der Bande wird mit Ausstossen bestraft.

3. Neue Mitglieder werden nach einer Probezeit von zwei Monaten von der Bandenmehrheit aufgenommen.

4. Freiwilliger Austritt kann nach zweimonatiger «Kündigungsfrist» von der Bandenmehrheit angenommen werden (nur bei triftigen Gründen).

5. Der Beitrag pro Woche beträgt Fr. 2.— (Erhöhung vorbehalten). Neueintretende bezahlen Fr. 15.— Eintrittsgebühr.

6. Bei geschlossener Sitzung sind Frauen nicht zugelassen.

7. Alkoholgenuss ist nur zulässig, wenn es von der Bandenmehrheit vereinbart worden ist.

8. Nichterscheinen bei Zusammenkünftigen ohne Abmeldung wird mit Geldstrafe bestraft (bis zu 20 Franken).

9. Bei Zusammenstössen von Bandenmitgliedern mit Aussenstehenden hat der Boss der Bandenmitglieder den Streit zu vermeiden; ist der Streit nicht zu vermeiden, so hat die Bande solidarisch mitzuhelfen.

10. Die Auflösung der Bande ist nur möglich unter Druck der Staatsgewalt oder wenn nur noch ein Mitglied vorhanden ist.

11. Die Gesetze können abgeändert oder ergänzt werden, und zwar nur an den alljährlichen ausserordentlichen Bandenversammlungen.»

 

Was 1965 noch als Kuriosum galt, entwickelte sich in den folgenden Jahren mehr und mehr zu einer veritablen sozialen Bewegung. «1968» entlud sich mit politischen Kundgebungen und Krawallen nicht nur in den Städten. Auch auf dem Land begannen die jungen Menschen ihren Idealen nachzuleben. Der Aargau bot für diese Lebensexperimente genügend Raum. In den Dörfern standen zahlreiche Bauernhäuser leer. Ihre Besitzer hatten sich von der Landwirtschaft abgewandt oder waren ganz einfach gestorben.

 

Foto: (Fotograf unbekannt © StAAG/RBA4-1_Jugendliche10_RocknRoll_4) 

7. Mai 2021 pze